9532 Kilometer von Mogadischu in den Taunus

Die neue interkulturelle Jugendwohngruppe Grävenwiesbach der Evim Jugendhilfe bietet acht Jugendlichen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten ein neues Zuhause. Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge und deutsche Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen werden in der stationären Jugendhilfe-Einrichtung rund um die Uhr betreut.  Von Matthias Pieren

Das Lächeln von Farah-Bijan (Name geändert) bewegt, wenn man weiß, welche Erfahrungen der junge Somali gemacht hat. Er hat vor fast zwei Jahren sein von Krieg und Terror zerrüttetes Heimatland hinter sich gelassen. Ohne Verwandte oder andere Erwachsene hat er sich als 14-Jähriger auf die Flucht begeben. Angesichts der zum Teil traumatischen Erlebnisse auf seiner Flucht wirken die letzten sechs Monate, die er nun in Sicherheit in Deutschland verbringen kann, offensichtlich heilsam.

Seit Januar lebt der mittlerweile 16-Jährige in der interkulturellen Jugendwohngruppe der Evim Jugendhilfe in Grävenwiesbach. Für den Tag der offenen Tür in der neuen Jugendhilfe-Einrichtung hat er ein Plakat gestaltet, auf dem er von den Gründen und auch von den Stationen seiner Flucht berichtet. „Es sind 9532 Kilometer von Mogadischu in den Taunus“, steht auf dem Plakat. Die Bilder und Texte haben unter den Besuchern großes Interesse geweckt. „Somalia ist sehr gefährlich. Es gibt viel Krieg. Ich hatte Todesangst und brauchte eine Sicherheit. Es gibt wenig Schule in Somalia. In Deutschland kann ich zur Schule gehen und arbeiten.“

Die Bereitschaft der jugendlichen Flüchtlinge, sich mitzuteilen, sei unterschiedlich, teilt dazu Thomas Baecker, Teamleiter der Einrichtung mit. „Angesichts des Erlebten will und kann nicht jeder sofort Dinge aus seinem Leben erzählen. Die Jugendlichen müssen erst dazu bereit sein. Das kann dauern. Wir geben ihnen die Zeit, die sie brauchen“, sagt der Sozialpädagoge. In der Wohngruppe ist in der Kommunikation vor allem Ideenreichtum gefragt. Für den 42-Jährigen ist die Verständigung mit Händen und Füßen und ausgeprägter Mimik nicht fremd. In seiner Freizeit spielt Baecker in einer Laienspielgruppe leidenschaftlich gerne Theater. Seit Januar benötigt er die nonverbale Kommunikation mehr denn je. Vier der Bewohner der interkulturellen Wohngruppe gehören zum Personenkreis der ‚unbegleiteten minderjährige Flüchtlinge‘. Hier im Taunus haben sie zusammen mit deutschen Jugendlichen aus familiären Not- und Problemsituationen in der Wohngruppe der stationären Jugendhilfe ein neues Zuhause gefunden.

In ihrem neuen Zuhause im Taunus müssen die jungen Menschen aus Somalia, Pakistan und Eritrea erst einmal innerlich ankommen. Das Jugendhilfe-Team des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM) begleitet und betreut in Grävenwiesbach die acht Jugendlichen mit dem Ziel, sie in die Gesellschaft zu integrieren und auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten. Interkulturell nennt der Träger die Wohngruppe deshalb, weil neben den vier Flüchtlingen auch vier deutsche Jugendliche aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen. Sie erhalten in der stationären Wohngruppe Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB XIII. In beiden Fällen ist der Hochtaunuskreis Auftraggeber für die gesetzlich vorgeschriebenen Jugendhilfe-Maßnahmen.

„Natürlich haben diese Jugendlichen einen ganz anderen Hintergrund. Doch das Zusammenleben ermöglicht ein Stück Normalität im Jugendalltag, von der beide profitieren können“, beschreibt Klaus Friedrich, Bereichsleiter Hessen-Süd der Evim Jugendhilfe das Konzept des interkulturellen Lernens. „Die Flüchtlinge beeindrucken Mitarbeiter, wie auch ihre Mitbewohner durch ihre Motivation und Freude, Deutsch zu lernen. Die deutschen Jugendlichen geben ihrerseits viele Sprachkenntnisse weiter und geben Hilfen in dem für Flüchtlinge fremden Alltag in Deutschland.

Es sind die ganz alltäglichen Dinge, die die Flüchtlinge in ihrem neuen Alltag in Deutschland erst einmal lernen müssen. Das beginnt bei Schnupfen mit dem Einnehmen von Nasentropfen, geht über die Müllsortierung im Haushalt und die Nutzung moderner Hausgeräte in der Küche hin zum Hochziehen von Rollläden. Doch freilich es gibt auch Reibungspunkte. „Nach ein oder zwei Jahren Flucht, auf der sich die jungen Menschen völlig auf sich alleine gestellt erfolgreich durchgeschlagen haben, bekommen sie hier in Deutschland nun einen Vormund und die Pädagogen der Wohngruppe vor die Nase gesetzt. Spannungen bleiben nicht aus“, beschreibt Klaus Friedrich die besondere Herausforderung.

Die Jugendlichen aus Pakistan, Somalia und Eritrea besuchen eigens eingerichtete Integrationsklassen in Schulen der Umgebung oder besuchen an zwei Tagen in der Woche vormittags und nachmittags jeweils für zwei Stunden den Deutschunterricht der VHS. In Grävenwiesbach werden sie zudem von Ehrenamtlichen im katholischen Gemeindezentrum beim Erlernen der Sprache unterstützt. Das Pädagogen-Team um Thomas Baecker ist derzeit auf der Suche nach Unternehmen und Institutionen, die bereit sind, den jugendlichen Flüchtlingen im Rahmen von Tagespraktika die Möglichkeit zu geben, Aufgaben zu erlernen.

Foto: Ein jugendlicher Flüchtling aus Somalia hat für den Tag der offenen Tür der interkulturellen Wohngruppe ein Plakat gestaltet, auf dem er die Gründe und den Verlauf seiner Flucht schildert. Foto: Pieren