Ricardo Lenzi Laubinger (stehend) und Gäste wurden mit viel Wertschätzung am Campus Klarenthal empfangen.

Dr. Mehmet Daimagüler rief in eindringlichen Worten dazu auf, wachsam zu sein.

Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (rechts) dankte für einen bewegenden Vortrag, der unter die Haut gegangen ist.

Bravorufe für einen mitreißenden musikalischen Abschluss mit dem Ricardo Laubinger Swingtett.

Antiziganismus-Aktionstag am Campus Klarenthal

Es passiert nicht oft, dass ein Redner in einem Raum voller Jugendlicher wirklich alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Doch hier, am Campus Klarenthal, bekommt Ricardo Lenzi Laubinger tatsächlich alle Augen und Ohren für sein Thema, im Saal ist es mucksmäuschenstill: Das Schicksal seiner Familie, stellvertretend für Sinti und Roma, die dem mörderischen Regime der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind.

Allein aus Laubingers Familie waren das über 60 Personen. Der Wiesbadener Sinto hat ein drastisches Buch darüber geschrieben, „Und eisig weht der kalte Wind“. Er habe es 2019 veröffentlicht und alle Wiesbadener Schulen angeschrieben, weil es ihm ein großes Anliegen sei, der jungen Generation zu berichten, was passiert ist – und dass so etwas nie wieder passieren darf. Doch nur Campus Klarenthal habe überhaupt reagiert, berichtet er.

Ein Vortrag, der unter die Haut geht

Hier besteht nun seit Jahren eine gute Verbindung: Lehrerin Signe Ross behandelt mit allen neunten Klassen das Thema Nationalsozialismus sehr ausführlich. Auch hier zunächst mit dem Schwerpunkt Antisemitismus, aber seit dem Kontakt mit Laubinger ist auch der „Antiziganismus“ ein Thema, das alle Schülerinnen und Schüler kennen lernen. Mittlerweile gibt es auch eine feste AG, die sich damit beschäftigt. In mehreren Lesungen in Wiesbaden, Mainz und Frankfurt haben die Mitglieder dieser AG schon das Buch Laubingers vorgestellt, der mit seinem „Laubinger-Swingtett“ dazu Musik macht. Nun war Laubinger erstmalig an der Schule zugegen, um einen Vortrag über seine Arbeit und seine Biographie zu halten.

Zu Gast waren auch der erste  Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Mehmet Daimagüler, seit 2022 in diesem Amt, und Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende. Signe Ross, Schulleiter Uwe Brecher und der Schüler Samuel Süs begrüßten die Gäste. Der Rahmen war ein „Aktionstag gegen Antiziganismus“, den die Schule Campus Klarenthal erstmalig organisiert hatte. In einer vorausgegangenen Aktionswoche für Frieden und gegen Antisemitismus waren unterschiedliche Zeitzeugen, Autoren und Politiker an der Schule zu Gast. Dass die Schule sich so umfassend dem Thema stellt, würdigte der Oberbürgermeister, dem es laut eigener Aussage eine „Herzensangelegenheit“ sei, Erinnerungsarbeit in Wiesbaden zu betreiben. Speziell zum Thema Antiziganismus berichtete Mende vom Gedenktag für die aus Wiesbaden deportierten Sinti und Roma, der immer am 8. März am Mahnmal in der Bahnhofstraße stattfindet. „Angesichts der Deportationsfantasien heute beschäftigt mich das Thema unglaublich.“

Wer Ricardo Laubinger bei seinem unter die Haut gehenden, drastisch bebilderten Vortrag zugehört hat, kann davon auch unmöglich nicht berührt sein. „Ich möchte vor allem den Jugendlichen erzählen, was geschehen ist. Ihr seid die Zukunft unserer Demokratie. Ihr müsst es wissen, damit ihr verhindern könnt, dass es wieder geschieht“, sagte Laubinger. Er berichtete, dass die AFD kürzlich einen Antrag gestellt habe, Sinti und Roma zu registrieren. „Das ist wie in der 30er Jahren“. Der Antrag sei, da grundgesetzwidrig, abgelehnt worden. Doch alltägliche Repressalien wie jene, von denen er aus seiner Schülerzeit berichtete und auch anhand eines aktuellen Falles aus Speyer, seien noch immer an der Tagesordnung. Das entsetzliche Schicksal seiner Mutter, die das KZ überlebte, machte die Zuhörenden vollkommen sprachlos.

„Wir müssen aufeinander aufpassen“

Mehmet Daimagüler sagte, er gehe ebenfalls sehr gerne an Schulen und sei gerne der Einladung Laubingers gefolgt, „er hat eine Stimme, die weit über Hessen hinaus geht“, würdigte er den Begründer der Sinti-Union Hessen, die es seit 2014 gibt. Namen und Geschichten der Sinti und Roma dürften nicht vergessen werden. „Doch Erinnern ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, unsere Gegenwart und Zukunft vor Hass zu schützen“, sagte Daimagüler. In Italien regiere bereits eine Faschistin. „Dort gibt es keine Erinnerungskultur.“ Allein die Einstufung dessen, was den Sinti und Roma angetan wurde, offiziell als „Völkermord“, habe bis 1982 gedauert. Und Vorurteile bestünden bis heute.  „Egal, wer wir sind: Wir müssen aufeinander aufpassen“, sagte Mehmet Daimagüler. Eine so engagierte Schule sei beispielhaft, meinte auch Laubinger, der das Publikum zum Schluss des Aktionstages noch mit seiner mitreißenden Swingmusik beschenkte.  Der Erlös eines kleinen Büffets wurde der Sinti-Union Hessen gespendet. (Text: Anja Baumgart-Pietsch, Fotos: evim)

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