Boden unter die Füße bekommen

„Ich bin Umzieherin“, sagt Natalja A.* (Foto) selbstbewusst und lacht, bevor sie die vielen Stationen ihres 23 Jahre jungen Lebens aufzählt. Die Gründe für den steten Ortswechsel sind alles andere als heiter, wie sie selbst berichten wird. Umso mehr beeindruckt, dass sie es geschafft hat, Boden unter die Füße zu bekommen.

„Sie ist auf einem guten Weg“, sagen ihre Betreuer im Wohnverbund Pfitznerstraße zu Recht und mit Stolz. David Pfirrmann, Leiter der Einrichtung, erinnert sich noch gut daran, als Natalja A. vor zweieinhalb Jahren zur EVIM Behindertenhilfe kam. Grund dafür war, dass die sie betreuende Einrichtung geschlossen werden sollte. „Natalja A. ist das jüngste von vier Geschwistern und das einzige, das, wie sie selbst berichtet, „lesen, schreiben, rechnen und Zug fahren kann.“ Ihr Vater habe „Scheiße“ gebaut. Sie wurde als Kind Zeuge und Opfer von traumatischen Misshandlungen in der Familie. Besonders betroffen war ihre älteste Schwester. Zu ihr hat sie noch Kontakt. „Erna ist schwerstbehindert und lebt mit ihren beiden kleinen Kindern in einem Heim.“ Der einzige Bruder ist vor zwei Jahren verstorben.

Schwierigste Voraussetzungen

Über all das kann die gebürtige Kasachin reden, die als Einjährige mit der Familie nach Deutschland kam. Sie spricht relativ schnell. Die Fakten kommen fast fehlerlos über ihre Lippen. Ihre Stationen: Limburg, Idstein, Königshofen, erneut Limburg, Aarbergen, Ohren, Dornach und schließlich Wiesbaden. Betreuungseinrichtungen wechselten sich mit kurzen, problematischen Aufenthalten in ihrer Familie ab. „Die vielen Beziehungsabbrüche und Bindungsstörungen legten nahe, dass die Hilfe schwierig werden wird“, bekennt David Pfirrmann. Ein erstes Angebot im Außenbetreuten Wohnen war eine zu hohe Hürde für Natalja A. Zurück im stationären Wohnbereich konnte Natalja A. mit Hilfe ihrer beiden Bezugsbetreuer Sandra Nenninger und Matthias Weidlich allmählich das entwickeln, was sie im Leben kaum erfahren hatte: Vertrauen gegenüber anderen und Respekt. Bis heute habe sie unter körperlichen Symptomen zu leiden, die durch ihre Biografie bedingt sind. „Mein Gehirn arbeitet schlecht“, sagt sie. Dazu gehört auch, dass sie ihre Impulse und Aggressionen nicht immer kontrollieren kann. „Da kam auch schon mal die Polizei“, erinnert sich Natalja A. erschrocken.

Intensive Beziehungsarbeit

Wie sehr sie in der Pfitznerstraße nach den Worten David Pfirrmanns ein ‚Zuhause‘ gefunden habe, zeige auch ihre Trauerarbeit beim Tod ihres Bruders David. Ihre Bezugsbetreuer fingen sie emotional auf, als die Nachricht kam. Sie ermöglichten ihr, ein würdevolles Abschiednehmen im Kreis der Familie und waren für sie da, um ihre Trauer in intensiven Gesprächen zu verarbeiten. Diese Erfahrungen kann Natalja A. selbst in eigene Worte fassen, wobei sie dankbar Sandra Nenninger anschaut.

Von großem Vorteil ist, dass Natalja ein nach außen gerichteter Mensch ist. Gerne ist sie unterwegs. Sie liebt Wiesbaden, „saugeil“ sei die Stadt und ihre graublauen Augen strahlen unternehmungslustig. Sie fährt allein in die City und regelmäßig zur Gesprächstherapie. All das hat sie mit ihren Betreuern geübt. Und, sie geht so gerne ‚shoppen‘, wie viele ihrer Gleichaltrigen auch. Dafür muss sie von ihrem Taschengeld lange sparen, aber ein paar schicke Turnschuhe habe sie sich erst kürzlich gekauft.

Reisen ist ihr ‚großes Ding‘. Immer wieder kommt sie auf ihre Fahrt nach Hamburg zurück, die sie ganz allein geschafft hat. Anlass war der 80jährige Geburtstag ihrer Großmutter. „Tanten, Onkel und auch meine Mutter waren bei der Party dabei“, erzählt sie begeistert. Wer sie so fröhlich übers Leben reden hört, mag ihr gerne glauben, dass sich eines Tages auch ihr Traum von einer eigenen Wohnung erfüllen kann. Dort will sie ein schönes Bad haben, mit allem, was dazu gehört. Und eine Küche, in der sie backen und kochen kann: am liebsten russische Kekse, Pelmeni und ihre Lieblingssuppe Borschtsch – „mit einem Löffel Schmand für den guten Geschmack.“

Verantwortung übernehmen

Auf dem Weg in ein selbstständiges Leben gibt es allerdings noch viel zu trainieren, zum Beispiel Verantwortung zu übernehmen. Dafür ist die junge Frau mit den raspelkurzen blonden Haaren bereit. „Ein Anfang wäre, zunächst ein oder zwei Stunden pro Woche verbindlich eine Aufgabe zu übernehmen“, sagt David Pfirrmann. Noch sei die Arbeit in einer beschützenden Werkstatt für sie ein zu hoher Anspruch.

Befragt nach ihren Interessen, überlegt Natalja A. nur kurz und weiß ‚zu punkten‘: Regale aus- und einsortieren, Wäsche waschen, bügeln und zusammenlegen und am liebsten Hunde ausführen. „Tiere sind so lustig!“ Allein die Vorstellung davon bringt ihr Gesicht zum Leuchten. Auch kümmert sie sich um eine Mitbewohnerin, die an Parkinson erkrankt ist. Sie geht zum nahen tegut und kauft für sie ein. So intensiv sich auch die Betreuer auf sie einlassen und sie fördern - eine Unterstützung von Ehrenamtlichen wäre mehr als willkommen. „Alten Menschen freiwillig zu helfen, ist in der Gesellschaft etabliert. Ehrenamtliche für Menschen mit Behinderungen zu finden, ist ungleich schwerer“, berichten die Profis.

Trotz ihrer leidvollen Lebenserfahrung pflegt Natalja A. Kontakte zu einigen Familienmitgliedern. Aber auch zu einer engen Freundin in Idstein. Sie ist eingeladen zu ihrem Geburtstag. Voller Vorfreude war sie im Liliencarré und hat bei Rewe Kekse gekauft „mit Quittungen und Restgeld!“, sagt sie stolz. Dass Frau Nenninger zu ihren Gästen gehört, ist für sie klar. Gemeinsam wollen sie essen und natürlich shoppen gehen. (hk)
*Name der Redaktion bekannt

(Foto/EVIM): Natalja A. ist stolz auf das Bild aus Filz in ihrem Zimmer, das sie selbst gemacht hat.

Aufruf

Wer Natalja A. ehrenamtlich helfen möchte, bitte melden unter: T 0611 181230 (in der Verwaltung)

Gesucht werden auch Angebote für kleine Aufgaben im Zeitumfang von ein bis zwei Stunden pro Woche in Wiesbaden - wie zum Beispiel Hund ausführen, Blumen pflegen, kleine Einkäufe machen oder vorlesen.