Reiner Engelmann (rechts) und Samuel Süs (im Hintergrund). In der Mitte ist das Porträt von Wilhelm Brasse zu sehen, auf der Leinwand seine Aufnahmen eines später in Auschwitz ermordeten, damals wohl 14-jährigen Mädchen namens Czeslawa Kwoka.

Reiner Engelmann (rechts) und das in der Ausstellung enthaltene Porträt der Zeitzeugin Esther Bejarano (geb. Loewy)

Der Fotograf von Auschwitz

Zum Abschluss der Aktionswoche für Frieden und gegen Antisemitismus besteht am Campus Klarenthal die Gelegenheit zu einer ganz besonderen Lernerfahrung. Reiner Engelmann berichtet von den Erlebnissen eines Mannes, der mehr als vier Jahre im Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat. Eindrücke, die mehr als deutlich machen, warum es so wichtig ist, sich dafür einzusetzen, dass es nie wieder solche Entwicklungen gibt.

„Ich bin sehr zufrieden mit dem Verlauf der Woche. Vor allem, dass so viele teilgenommen und das Thema aufgegriffen haben“, freut sich Samuel Süs. Der Schüler des Abiturjahrgangs hat im Rahmen einer besonderen Lernleistung die Veranstaltungen zum Thema Antisemitismus organisiert. Den Autor eines Buches über den Fotografen von Auschwitz habe er im vergangenen Jahr bei einem Zeitzeugen-Gespräch in Ingelheim kennengelernt. Bei dessen Lesung im Spiegelsaal der Schule, inmitten der Ausstellung mit dem Titel Den Zeitzeugen ein Gesicht geben, reichen die Stühle erneut kaum aus, um allen Interessierten Platz zu bieten.

Bewegende Lebensentscheidungen

Ein warmer, zugewandter Blick schaut den Gästen vom Rednerpult entgegen. Denn dort steht das zur Ausstellung gehörende Porträt von Wilhelm Brasse. Wie der 1917 in Żywiec geborene Sohn eines Österreichers und einer Polin zum Fotografen von Auschwitz geworden ist, hat Reiner Engelmann kurz vor dessen Tod im Jahr 2012 von ihm selbst erfahren. Wie gut Wilhelm Brasse die deutsche Sprache beherrscht hat, lässt sich einer Originalaufnahme entnehmen, in der er über seine Jugend spricht. Inklusive seiner Ausbildung, nach der er ab 1935 als Berufsfotograf in Kattowitz arbeitete, das heute wieder Katowice heißt. Nach der Invasion Nazideutschlands in Polen sei er im Sommer 1939 in seine Heimatstadt zurückgekehrt, doch bis er Mitte September dort angekommen sei, sei diese bereits besetzt gewesen. Mit sonorer Stimme erzählt Reiner Engelmann die meiste Zeit von den Erinnerungen des Fotografen, anstatt tatsächlich aus seinem Buch vorzulesen. Ganz klar sei für Wilhelm Brasse in dieser Zeit die Entscheidung gewesen, Pole zu bleiben, anstatt Deutscher zu werden. Denn er habe nicht in die Verlegenheit geraten wollen, im Krieg gegen seine polnischen Landsleute kämpfen zu müssen. Im Gegenteil, gemeinsam mit Freunden habe er sich Ende März 1940 zu Fuß auf den Weg Richtung Ungarn gemacht, mit dem Ziel, in Frankreich im Untergrund gegen die Nazis zu kämpfen.

Grausame Erfahrungen im jungen Leben

Doch noch vor Erreichen der ungarischen Grenze seien die Freunde aufgegriffen worden, weshalb Wilhelm Brasse schließlich im August 1940 nach Auschwitz deportiert worden sei. Dort habe er schnell erfahren, welche Willkür und Grausamkeit in dem Konzentrationslager geherrscht hat. „Ich habe mit vielen Zeitzeugen gesprochen. An die Begrüßungsrede des Lagerkommandanten konnten sie sich alle noch erinnern“, verdeutlicht Reiner Engelmann. Nur durch den Schornstein würden die Deportierten das Lager verlassen, habe dieser deutlich gemacht. Ganz so sicher dürften sich die Nazis aber nicht gewesen sein, denn die Fotos derjenigen, die nicht sofort nach der Ankunft im Lager ermordet wurden, sollten wohl nicht zuletzt zur Identifikation im Fall einer Flucht dienen. Bevor dafür jedoch ein Fotograf gesucht wurde, arbeitete Wilhelm Brasse zunächst im Straßenbau und im Abbruchkommando und lernte den Lageralltag aus Schlägen und schlechter Verpflegung kennen. „Der Hungernde denkt immer nur ans Essen“, lautet seine Erkenntnis aus dieser Zeit. Wegen des Versprechens einer zusätzlichen Verpflegung habe er sich schließlich dazu entschieden, Leichenträger zu werden. Doch die zusätzliche psychische Belastung habe ihn dort zur Aufgabe gezwungen. Schließlich sei er in der Kartoffelschälerei gelandet, was es ihm ermöglicht habe, mit anderen Inhaftierten Kartoffelschalen oder sogar ganze Kartoffeln zu teilen.

Zeugnisse der Verbrechen für die Nachwelt gerettet

Meist aber habe er ohnmächtig dem Grauen zusehen müssen. Sei es, wenn ein ehemaliger Schulfreund im Dezember nackt auf dem Appellhof habe stehen müssen. Sei es, als am heiligen Abend 1940 tote Häftlinge unter dem Weihnachtsbaum gelegen hätten. Für ihn selber wendet sich das Blatt, als er im Frühjahr 1941 zum Lagerfotografen wird. Als sogenannter „Funktionshäftling“ habe ihm eine Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft mit Dusche und Toilette sowie bessere Verpflegung zugestanden. Geschätzte 50.000 bis 70.000 Menschen habe er in den kommenden knapp vier Jahren fotografiert. Bis im Januar 1945 die Rote Armee auf das Lager vorgerückt ist und sein Vorgesetzter ihm befohlen habe, Aufnahmen und Negative zu verbrennen. Wilhelm Brasse habe das Material im Anschluss jedoch aus den Flammen gerettet und versteckt, so dass Zeugnisse der nationalsozialistischen Verbrechen für die Nachwelt erhalten geblieben sind. Der Fotograf selbst habe tags darauf das Lager verlassen müssen und sei schließlich erst im österreichischen Melk befreit worden. Nach seiner Genesung habe er erneut als Fotograf arbeiten wollen, doch beim Blick durch den Sucher habe er immer wieder die Gesichter der Porträtierten aus Auschwitz gesehen. Ein spannendes Schicksal, das so lebhaft vorgetragen wird, dass Reiner Engelmann am Ende großen Beifall erhält. (Hendrik Jung)

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