Im Mittelpunkt des kulturanthropologischen Arbeitens steht der einzelne Mensch, dem unvoreingenommen begegnet wird. Seine Lebensweise im Allgemeinen wird wertfrei akzeptiert. Dieser konsequent personenzentrierte Ansatz ist genau das, wofür EVIM steht und passt daher perfekt in das Gesamtkonzept der Einrichtung, die sich auf die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz in besonderer Weise spezialisiert hat. In diesem konzeptionellen Rahmen wurde die Erzählzeit auf den Weg gebracht, die von Anna Engmann begleitet wird. Die 29jährige Geisteswissenschaftlerin hatte in Mainz Kulturanthropologie und Publizistik studiert und bewarb sich auf ein Stellenangebot im Katharinenstift. „Es brauchte kaum mehr als drei Sätze, um im fachlichen Austausch eine gemeinsame Basis für ein zusätzliches Gesprächsangebot für die Bewohner aus kulturanthropologischer Sicht zu entwickeln“, erinnern sich Bastian Ringel, der die Einrichtung leitet und seine neue Teamkollegin (Foto), die sich vor über zwei Jahren auf die Stelle Verwaltung mit Schwerpunkt Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit beworben hatte.
Einzigartiges Angebot in einer Pflegeeinrichtung
Doch zunächst kam alles ganz anders. Die Pandemie setzte andere Prämissen und Anna Engmann unterstützte all das, was zusätzlich vom Personal geleistet werden musste: testen, dokumentieren und kommunizieren bestimmten den Arbeitsalltag. Für ihr Herzensprojekt Erzählzeit blieb buchstäblich kaum Zeit. Wann immer es möglich war, nahm sie behutsam den Kontakt zu Bewohnern auf, die Interesse oder Bedarf daran hatten zu erzählen und hörte ihnen zu. Unterstützt wurde sie dabei mit Rat und Tat von den Betreuungskräften und dem Fachpersonal in der Pflege. Im weiteren Verlauf der Pandemie konnte nach und nach das Gesprächsangebot ausgebaut werden, für das die Einrichtung einen Stellenanteil von 40% bereitstellt, ein einzigartiges Angebot in einer Pflegeeinrichtung in der Region, sagt Bastian Ringel.
Mit Fachlichkeit und Fingerspitzengefühl
„In der Erzählzeit geht es um Beziehungsgestaltung“, erläutert Anna Engmann. Es gehe um die „gelebte Vergangenheit auf dem Hintergrund des fachlichen Know-how“. In dem „wertungsfreien Zuhören“ erleben die Gesprächspartner ein Interesse an ihrer Person, das mit diesem Fokus sonst nicht stattfinden könne. Hier unterscheidet sich das Angebot von dem Biografiebezug im standardisierten Pflegeprozess, bei dem die Bewohner oder Angehörigen vorzugsweise oder hauptsächlich Auskunft zu Vorlieben, Wünschen, Interessen und Lebensereignissen aus ihrer Vergangenheit geben und diese im Biografiebogen dokumentiert werden. Bei dem kulturanthropologischen Gesprächsangebot gehe es um die „gelebte Wirklichkeit“, die wertfrei akzeptiert wird. Es sei kein therapeutisches Angebot, betont Anna Engmann, sondern das „Akzeptieren des Seins“, worüber die Gesprächspartner „eine bestärkende Wertschätzung“ für ihre Person erfahren können.
Für diese Gespräche sind neben der Fachlichkeit eine hohe Sensibilität und sehr viel Fingerspitzengefühl nötig. Beides bringe die Teamkollegin in besonderer Weise mit ein, freut sich Einrichtungsleiter Bastian Ringel. In den Gesprächen kommen manchmal überraschende Lebenserinnerungen zu Tage, manchmal auch tief Vergrabenes, das vertraulich bleibt. Andere Erkenntnisse können für den Pflegeprozess von Bedeutung sein und werden als Gesprächsnotiz dokumentiert. Zudem habe sie als Kulturanthropologin die Möglichkeit, bei Fallkonferenzen ihre Sichtweise mit einzubringen. Eine Weiterbildung in Integrativer Validation habe ihr geholfen, sich in der „Landschaft“ eines Menschen mit Demenz zu bewegen.
Gespräche endlich wieder ohne Maske
Das Wichtigste an dem neuen Angebot Erzählzeit sei, so Bastian Ringel, dass der Mensch hier die Möglichkeit habe, seine ganz individuelle Lebensgeschichte zu erzählen, die keiner anderen gleicht. Das Einzelangebot in Form eines wohlwollenden, ungezwungenen Gespräches – wertfrei und nicht kommentiert – stärke aus Sicht der Fachexperten das Selbstbild und Selbstvertrauen besonders von Menschen, die durch dementielle Veränderungen unter Umständen noch bewusst den Verlust von Fähigkeiten und des Erinnerungsvermögens erfahren (müssen). Der vermittelte Respekt und das aufrichtige Interesse an ihrer Person können dazu führen, das Wohlbefinden des Menschen zu steigern und mehr Freude am Leben zu spüren.
Erleichtert ist nicht nur Anna Engmann darüber, dass die Gespräche seit heute wieder ohne Maske stattfinden können. „Besonders für Menschen mit Demenz sei es mitunter schwer gewesen, das Gegenüber zu verstehen“, beobachtete sie. In der Regel dauern die Gespräche anderthalb bis zwei Stunden, wohlinvestierte Zeit, in der der einzelne Mensch als „Experte seines Lebens“ im Mittelpunkt steht. (hk)