„Die Gesellschaft sieht nicht den Menschen, nur das Problem“

Eine Geschichte über Ideale, Mut und Cleverness, ums Kämpfen, Hinfallen und Aufstehen. Und um Gemeinschaft.

Der Weg ins Gallische Dorf führt nach Rheinhessen. "Wir befinden uns im Jahre 2019. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten." Der Spruch aus der Asterix-Welt hängt im Dienstzimmer der Mädchen-Intensiv-Wohngruppe und macht auf humorvolle Weise klar, dass es hier ums Ganze geht. Das Gallische Dorf heute befindet sich in Sprendlingen und zwar ziemlich genau gegenüber dem Bahnhof.

Das Backsteingebäude ist seit gut einem Jahr das neue Zuhause für sechs Mädchen im Teenager-Alter. An einer „Wand der Koexistenz“ im Gemeinschaftsraum sind die Konterfeis revolutionärer Frauen wie Rosa Luxemburg und Angela Davis. Darüber arabische Schriftzeichen in einem Stern sowie ein antikes Jesus-Bild im Goldrahmen. Wer nicht weiß, dass hier Mädchen mit schwierigsten Lebenserfahrungen wohnen, würde auf „alternativ“ tippen. In gewisser Weise stimmt das auch: alternativ zu ihrem bisherigen Leben, wie das von Melanie*. Sie ist 15 und lebt seit ihrem fünften Lebensjahr in Heimen. Das hübsche, großgewachsene und stämmige Mädchen hat 21 stationäre Aufnahmen hinter sich, darunter mehrere Psychiatrieaufenthalte von sechs bis acht Wochen. „Kein Wunder, dass die Mädchen ausflippen“, resümiert Teamleiter Sascha Schneider eine Konsequenz aus den zahllosen Beziehungsabbrüchen. 

‚Rausfliegen’ gibt es hier nicht

Jedes der Mädchen hat eine Geschichte, die die meisten Menschen zum Glück nie am eigenen Leib erfuhren. Keines hatte je die Chance, Vertrauen zu Erwachsenen aufzubauen. Jeder Tag ist für sie ein Ringen, im Leben zurecht zu kommen, mit sich selbst, mit den anderen – wer und wo immer sie auch sind. „Dafür, dass es eine Zwangsgemeinschaft ist und die Mädchen von der Gesellschaft den Stempel  „sozial nicht verträglich“ haben, bin ich oft fasziniert, wie die Mädchen das packen“, sagt der Fachexperte über das Zusammenleben. Dass mit ihnen fünf weibliche und vier männliche Betreuer arbeiten, ist eine von vielen Besonderheiten dieses Angebotes. 

Melanie lebt seit fast zwölf Monaten hier. Sie führt den Gast durch das Haus. Sie ist in Eile. Auf einem Finger balanciert sie eine Wimper, die sie sich aufkleben will. Bereitwillig zeigt sie ihr helles, geräumiges Zimmer: ein großes Bett mit vielen Plüschtieren, ein Schrank, ein kleiner Tisch, ein Stuhl. Der Blick durch das große Fenster fällt auf einen Baum. Ihr Lieblingsplatz sei in der Badewanne, antwortet sie auf die Frage und lächelt dabei. Melanie mag Tiere: den Nachbarhund Strolch und „Elvis“, den Welpen einer Mitarbeiterin. Pferde und Katzen mag sie auch. In die Schule geht sie derzeit nicht. Sie hat einen Wochenplan mit Aufgaben. Heute hat sie Weihnachtskarten gebastelt. Das Gespräch ist vorüber. Nun kommen die Wimpern dran.

Im Dienstzimmer ist unterdessen Irina Eisenschneider angekommen. Sie hospitiert für einen Tag, weil sie eine neue Arbeitsstelle sucht. Sprendlingen ist für sie in der engeren Auswahl. Das Konzept sei innovativ, sagt die junge Frau mit den Dreadlocks. „Die Jugendlichen haben hier nicht nur eine Chance, sondern immer wieder neu eine Chance. ‚Rausfliegen‘ gibt es hier nicht.“ Neben ihr sitzt Pascal Mainka, Mitarbeiter aus der EVIM Jungen-Intensiv-Gruppe in Morbach, der spontan bei seinem ehemaligen Arbeitskollegen vorbeischaut.

Immer geht es um individuelle Ziele. Er berichtet von einer 14jährigen, die sich ein Spirale einsetzen ließ. Das sei ein riesiger Erfolg, würdigt er. „Mit dieser Entscheidung hat das Mädchen Verantwortung für zwei Leben übernommen: für sich und für das ungeborene Kind!“ Andere hingegen sähen in ihr das Mädchen, das die Lehrerin mit Kraftausdrücken belegt. „Die Gesellschaft sieht nicht den Menschen, nur das Problem. Wir gehen viel zu sehr von vollständiger Heilung der Betroffenen aus. Das ist von der Mitte der Gesellschaft heraus gedacht: Schule, Beruf, Arbeit, Familie, Kind. Alles soll funktionieren.“ 

„Wir konnten ihn vor anderen nicht schützen“

 

Für die drei Fachleute habe sich durch ihre Arbeit „die Messlatte“ verschoben. Sie fühlen sich persönlich nicht angegriffen, wenn sie vulgär beschimpft werden. „Wir haben nicht das Recht, das zu verurteilen“, so Schneider. Die Jugendlichen mussten, um zu überleben, eine Strategie entwickeln, die ihnen Schutzraum und mehr Freiheit bietet. Anders sieht es für die Pädagogen aus, wenn die Tasse an ihrem Kopf, die Faust in ihrem Gesicht landet. Oder wenn ein Bewohner ausziehen muss. Wieso ein Bewohner? „Wir haben zwei Jugendliche mit Transgender-Thematik und respektieren ihre Entscheidung.“ Der Jugendliche kletterte auf einen Baukran. Einmal legte er sich auf die Gleise. Anwohner bewahrten ihn vor dem Tod. Sein Verhalten hatte Konsequenzen: Polizei, Rettungsdienst und Anzeige. Es gab Verleumdungen gegenüber den Mitarbeitenden. Der Jugendliche tauchte für mehrere Wochen unter, niemand wusste wo. Aus Rettern wurden Gegner. Letztendlich zog der Junge zur Mutter. „Wir konnten ihn vor anderen nicht schützen“, bedauert Sascha Schneider und fügt hinzu: „Aufgrund seines Verhaltens hätten wir die Maßnahme nicht beendet.“ Das Angebot an die Ehemaligen, jederzeit vorbeizukommen, gelte auch für ihn.

Intensivgruppenarbeit ist das, was Sascha Schneider schon immer machen wollte. „Jeder Tag bringt neue Herausforderungen, an denen man als Pädagoge und als Mensch wächst“. Seine Überzeugung ist, dass jemand, der nie etwas hatte, Verlässlichkeit, Respekt und Angenommensein verdient. Werte, deren Vermittlung in der Gesellschaft zu kurz kämen. Dazu gehört auch zu erklären, nicht zu verbieten. „Wir versprechen den Mädchen: Ich helfe Dir hoch, wir stehen zusammen auf und dann: nächster Anlauf.“ Bewusst gäbe es in diesem Angebot so wenige Strukturen, was nicht leicht zu vermitteln sei. „Das System ist zu starr“, spricht aus ihm der unbeugsame Gallier. Und, es gibt bei allen Herausforderungen auch viele Erfolge wie die gemeinsamen Events. Viermal im Jahr geht das Gallische Dorf auf Reisen. Schneider schwärmt noch heute von der Kanutour. „Am Ende der Freizeit haben die Mädchen sogar alleine im Boot gepaddelt! Obwohl sie auch mal im Wasser landeten, hatten sie einfach ein tolles Erlebnis und gemeinsam viel Spaß.“ (hk)
*Name von der Redaktion geändert