DIS.Order – Reise ins Innere des Anderen

Tanztheater interpretiert ausdrucksstark das Thema ADHS

„Leidet einer von Euch an ADHS?“, möchte ein Schüler des Campus Klarenthal wissen. Denn die neuste Produktion der Frantics Dance Company aus Freiburg trägt den Titel DIS.Order und setzt sich mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auseinander. „Ich glaube alle!“, erläutert Carlos Aller lachend.

An Aktivität mangelt es dem Quartett während seiner knapp einstündigen Show jedenfalls nicht. Befeuert von der Musik, die Miguel Marin dazu komponiert hat, bespielen sie im Kubus der Schule sämtliche Raumebenen. Sind die Klänge sphärisch gleiten sie etwa am Boden wie über Eis. Indische Harmonien leiten eine Szene ein, die die Einflüsse der Contact Improvisation auf das Tanzkollektiv deutlich macht: Kopf an Kopf bewegen sich Carlos und Juan Tirado über die Bühne und scheinen dabei tastend zu ergründen, welches Haupt eigentlich das eigene ist. Mit akrobatischen Bewegungen zu mit spannungsvollen Effekten durchmischten Beats demonstrieren die vier Tänzer, dass ihre Wurzeln im Breakdance liegen. Aber auch Elemente aus Hip-Hop-Tanz und Kampfkünsten stechen ins Auge. Vor allem Marco di Nardo und Diego de la Rosa demonstrieren eine Spannkraft, die beeindruckende Sprünge erlaubt.

Kraftvolle Bewegungssprache zeigt Innenwelten auf

Überzeugend ist aber nicht nur die sportliche Komponente sondern auch die Klarheit der Bilder, mit denen das Quartett einen einfachen Einstieg in die Tanztheater-Produktion ermöglicht. Dass Sprache hier kaum eine Rolle spielt, wird am spanischen Text deutlich, der immer leiser wird und schnell verklingt. Umso ausdrucksstärker sind die langen Freeze-Szenen, in denen die Tänzer ihre Bewegungen einfrieren aber die Emotionalität ihrer Gestik und Mimik beibehalten. Diese ist so überzeichnet, dass sie fast wie in einem Comic wirkt. Über Sprachgrenzen hinweg verständlich ist auch, wenn die Gruppe Ching, Chang, Chong (Schere, Stein, Papier) spielt oder Juan sich mit den Fingern ein Herz auf den Brustkorb zeichnet, dass er dann mit einer Geste zerreißt. Aus der ins (Karten-)Spiel vertieften Runde ist für ihn plötzliche abgrundtiefe Enttäuschung entstanden.

Starke szenische Bilder regen zum Nachdenken an

„Menschen, denen Anzeichen von ADHS bewusst werden, haben außergewöhnliche Vorschläge und Visionen, aber es trifft sie um so härter, wenn ihre Träume nicht in Erfüllung gehen“, erfährt das Publikum durch einen der informativen Texte, die aus dem OFF eingespielt werden. In der Show wird der Enttäuschte von Marco und Carlos begutachtet, die ihn ganz offensichtlich zu analysieren versuchen und die Beobachtungen, die sie sich notieren durch Kopfnicken bestätigen. Immer wieder geht dies in fließende Tanzfiguren über, so dass sich die beiden Analysten letztlich vorrangig mit sich selbst beschäftigen und nicht mit dem Enttäuschten. „Es fällt uns schwer, eine Verbindung aufzubauen zu anderen, die das Problem nicht verstehen“, heißt es im Kommentar aus dem OFF. Und auf der Bühne absolviert Diego einen gleichermaßen komischen wie anrührenden Paartanz mit einem Stuhl. Starke Bilder, die beim Publikum wirken. „Anfangs war ich ein bisschen verwirrt, aber gegen Ende hin, hat es sich bei mir geklärt“, erläutert die 18-jährige Natasha. Einem Mitschüler erklären sich im Rückblick auch die Anfangsszenen. „Man registriert oft, dass Betroffene sich in ein Thema reinsteigern und sich so lange damit beschäftigen, bis es ausgereizt ist“, berichtet der gleichaltrige Max. Auch in seinem Umfeld gebe es Menschen, die in dieser Hinsicht besonders seien.
(Text und Foto von Hendrik Jung)

Foto: Die Mitglieder des Tanzkollektivs kurz vor der Show am Campus Klarenthal (v.l.n.r): Diego de la Rosa, Juan Tirado, Marco di Nardo und Carlos Aller.