Eine ideale Verbindung

EVIM Behindertenhilfe und Suchthilfezentrum Wiesbaden kooperieren bei Modellprojekt

Wenn beim Nachbarn öfter mal eine dubiose Flasche aus dem Rucksack schaut oder die Kollegin immer öfter mit einer deutlich wahrnehmbaren Alkoholfahne am Arbeitsplatz erscheint, weiß manch einer nicht, was er machen soll. Den Chef informieren? Auf Hilfsangebote hinweisen? Oder doch lieber so tun, als hätte man es nicht mitbekommen? Diese Situation ist immer heikel. Jeder wäre froh, wenn er da eine Anleitung hätte, wie er sich am besten verhalten könnte. Vielleicht noch ein bisschen schwieriger ist es, wenn es sich um einen Nachbarn oder Kollegen mit einer geistigen Behinderung handelt. Diese Zielgruppe wurde beim Thema Suchtproblematik bisher vernachlässigt. Doch aufgrund des neuen Bundesteilhabegesetzes von 2016 werden Menschen mit Behinderungen stärker zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigt.

Eigenverantwortung mit allen Konsequenzen

„Mit allen Konsequenzen“, sagt Renate Pfautsch, Geschäftsführerin der EVIM-Behindertenhilfe. „Mehr behinderte Menschen leben alleine und selbstverantwortlich, das heißt aber auch, dass sie sich beispielsweise Alkohol oder Drogen beschaffen können, ohne dass es jemand mitbekommt.“ Selbstbestimmung bedeute auch, dass man Gefahren ausgesetzt werde und möglicherweise schlecht damit umgehen kann. An Erfahrung im Umgang mit dieser Zielgruppe fehlt es aber bislang. Grund für ein Modellprojekt, bei dem die EVIM Behindertenhilfe und das JJ Suchthilfezentrum Wiesbaden nun drei Jahre lang gemeinsam herausfinden sollen, wie man der Zielgruppe geistig behinderter Menschen mit Suchtproblematik am besten gerecht werden kann. Eine ideale Verbindung, finden Renate Pfautsch und Thomas Abel von JJ, um das Modellprojekt „aktionberatung – einfach. gut. beraten.“, das für drei Jahre vom Bundesministerium für Gesundheit mit 300.000 Euro gefördert und wissenschaftlich begleitet wird, umzusetzen. Es startete am 1. September 2018 und kann mittlerweile auf erste Ergebnisse und Erfahrungen zurückblicken.

Erste Erfahrungen im Schlockerhof

Im Schlockerhof Hattersheim berichteten Pfautsch, Abel und Mitglieder des Werkstattrats der Einrichtung von den ersten Schulungen. „Es geht auch darum, das Thema aus der Tabuzone zu holen“, sagt Abel. Viele trauen sich nicht, über solche Dinge zu reden oder andere darauf anzusprechen. Und auch die Mitarbeiter in der Beratungsstelle haben noch wenig Erfahrung mit geistig behinderten Menschen. „Wir haben uns erst einmal wirklich Gedanken gemacht: Was braucht diese Zielgruppe?“ Ein Ergebnis war beispielsweise ein Flyer in „leichter Sprache“, mit dem auf die Angebote der Suchtberatung aufmerksam gemacht wird. Und die Schulung von Mitarbeitern, nicht nur der Beratungsstelle, sondern auch der Werkstatt – und der Mitglieder des Werkstattrates. Die erste Schulung in Hattersheim hat stattgefunden, und die drei Werkstatträte Sven Fronzek, Oliver Dinges und Lukas Heymann, sind begeistert. „Es gab sehr viel, was ich noch nicht wusste“, sagt Heymann. „Einmal zum Thema Sucht, und dann auch, dass es da Leute gibt, die man ansprechen kann, die einem helfen.“ So wurde beispielsweise die entsprechende Beratungsstelle in Hattersheim besucht und man konnte die Mitarbeiter kennen lernen. „Es gab auch eine „Mauer gegen Sucht“, da wurde gezeigt, was man Schönes machen kann, damit man gar nicht erst eine Sucht bekommt“, berichtet Oliver Dinges von den Präventionsmöglichkeiten, die in der Schulung angesprochen wurden.

Angepasste Lernmaterialien

Mit unterschiedlichen, auf die Zielgruppe angepassten Lernmaterialien widmete sich Abel den Aspekten des Themas. Und Renate Pfautsch ergänzt: „Es geht auch nicht um die Dämonisierung des Alkohols. Jeder hat auch das Recht, auszugehen und etwas zu trinken. Aber man sollte einfach wissen, wie die Wirkung ist. Diese Informationen waren bei geistig behinderten Menschen oft nicht vorhanden.“ Wichtig ist den Institutionen auch, die betroffenen Menschen selbst einzubinden und nicht über deren Köpfe hinweg irgendein Verfahren zu beschließen. Weitere Vorhaben sind die Erstellung eines Praxis-Handbuches und die Entwicklung einer Datenbank mit den gewonnenen Erkenntnissen.

von Anja Baumgart-Pietsch

Foto: Feedbackrunde im Beisein von Geschäftsführerin Renate Pfautsch und Thomas Abel (rechts). Lukas Heymann, Sven Fronzek, Oliver Dinges (v.l.n.r.) haben wichtige Erkenntnisse über Drogen gewonnen.