(v.l.n.r.): Die EVIM Fachbereichsleiter Olav Muhl und Klaus Friedrich im Gespräch mit Michael Simon …

... und im Gespräch mit Klaus-Peter Willsch und Andreas Hofmeister (3. und 4. v.l.)

"Kinder- und Jugendhilfe neu denken" - EVIM Fachbereichsleitung sieht dringend Handlungsbedarf in der KJH

Während der Pandemie wurde sehr schnell dorthin geschaut, wo Menschen schwer erkrankten und starben. Dass sich aber fast im Verborgenen soziale Problemlagen in den Familien verschärften, wurde erst spät wahrgenommen und trifft heute mit voller Wucht die Kinder- und Jugendhilfe. Die Leidtragenden sind Kinder und Jugendliche, die ohnehin durch Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung dringend auf Hilfe angewiesen sind. Der Hilfebedarf wächst und kann - ungelöst - in eine große gesellschaftliche Krise führen.

Umso mehr kommt es darauf an, Kontakt zu Entscheidungsträgern zu suchen und sich in die öffentliche Debatte einzumischen. Mit diesem Ziel hatte die Fachbereichsleitung der EVIM Jugendhilfe in den vergangenen Monaten erstmals alle Landtags- und Bundestagsabgeordneten in ihrem Einzugsgebiet in Hessen und Rheinland-Pfalz kontaktiert und zu Gesprächen eingeladen. Darüber berichten Klaus Friedrich und Olav Muhl im Interview für das EVIM Magazin:

Wie war die Resonanz auf Ihre Initiative?

Klaus Friedrich: Eher durchwachsen, trotzdem konnten wir bereits im ersten Halbjahr vergangenen Jahres interessante Hintergrundgespräche mit Klaus-Peter Willsch (MdB CDU), Andreas Hofmeister (MdL CDU) und Felix Martin (MdL Bündnis 90/Die Grünen) auf dem Geisberg führen. Höhepunkt war ein Meinungsaustausch im hessischen Landtag mit Landtagspräsidentin Astrid Wallmann (MdL CDU) und Kultusminister Prof. Alexander Lorz (MdL CDU) im März. Den Abschluss bildete im September ein Gespräch mit dem rheinland-pfälzischen Abgeordneten Michael Simon (MdL SPD), der über langjährige ASD(1)-Erfahrung verfügt.

Welche Themen hatten Sie auf der Agenda?

Klaus Friedrich: Die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) wird in der Öffentlichkeit nur beim Thema Kindertagesstätten bewusst registriert; die klassischen Hilfen zur Erziehung werden wenig bis gar nicht wahrgenommen. Dabei sind die Jugendämter seit der Corona-Krise chronisch unterbesetzt. Gleichzeitig steigt der Belegungsdruck auf stationäre Betreuungseinrichtungen und die Kosten haben sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt.

An welchen Stellen brennt es in der Kinder- und Jugendhilfe?

Olav Muhl: Die sicherlich notwendige, aber insgesamt zu starke Konzentration auf die Kinder und Jugendlichen, die schon „in den Brunnen gefallen sind“, verhindert notwendige Prävention und eine bessere Grundversorgung für alle junge Menschen. Wir sind überzeugt, dass präventive und sozialraumorientierte Angebote in Kooperation unter anderem mit Frühen Hilfen, Familienhebammen und Grundschulen dabei helfen können, langfristig stationäre Unterbringungen zu verhindern, was statistische Erkenntnisse aus Darmstadt und dem Rhein-Hunsrück-Kreis belegen.

Trotzdem schaffen Sie weitere stationäre Einrichtungen? Wie passt das zusammen?

Klaus Friedrich: Ja. Wir planen in diesem Jahr den Aufbau von weiteren sechs bis acht neuen Wohngruppen, obwohl das eigentlich nicht unserer Überzeugung sondern eher der puren Not geschuldet ist. Denn die Jugendämter suchen verzweifelt Unterbringungsmöglichkeiten und laufen uns die Türen ein. Es steht außer Frage, dass die Arbeit in den Wohngruppen wertvoll und wichtig ist. Aber das Ziel der KJH ist es, die Kinder im Normalsystem - in ihrer Familie - zu halten und dorthin zurückzuführen.

Wie viele Anfragen zur Unterbringung bekommen Sie pro Woche?

Klaus Friedrich: Durchschnittlich 30 bis 40 Anfragen, von denen wir über 90 % nicht bedienen können. Durch Überbelegung und Zusatzbetreuung versuchen wir im einen oder anderen Fall etwas möglich zu machen, aber die Lage ist schon sehr angespannt.

Welche Gründe gibt es für diesen hohen Bedarf?

Olav Muhl: Wenn in einem Jahr (von 2021 auf 2022) die Zahl der Inobhutnahmen um 40 % steigt, bedeutet das den System-Infarkt. Darunter befinden sich 17.300 unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA), die durch Flucht- und Gewalterfahrungen häufig traumatisiert sind. Gerade ihre Situation ist erdrückend und ihr gesetzlicher Anspruch auf Leistungen der KJH ist bei voll belegten Einrichtungen gefährdet. Denn durch die Pandemie sind die Bedarfe bei einheimischen Kindern und Jugendlichen ebenfalls gestiegen.

Worin sehen Sie die größte Gefahr?

Olav Muhl: Die Jugendämter sind sehr überlastet. Die Suche nach stationären Plätzen im ganzen Bundesgebiet bindet unglaubliche Energien, die für die eigentliche Diagnostik und Fallarbeit dringend benötigt würden. So reagieren viele Jugendämter nur noch bei Alarm, häufig bleibt dann nur noch die stationäre Aufnahme als Lösung. Doch je später in der Regel ein Hilfen zur Erziehung (HzE)-Angebot erfolgt, desto mehr verschärft sich die Problemlage für die jungen Menschen. Deutlich mehr als die Hälfte der jungen Menschen, die wir betreuen, sind über 12 Jahre alt, häufig besteht individueller pädagogischer oder therapeutischer Zusatzbedarf.

Welche Schlussfolgerung ergibt sich daraus?

Klaus Friedrich: Wir müssen Kinder- und Jugendhilfe neu denken und die klassische Versäulung der Systeme überwinden.

Können Sie uns das bitte kurz erklären?

Klaus Friedrich: Es gibt zu viele Säulen bzw. Akteure, die individuell und unvernetzt agieren: Hauptakteure wie die KJH, Schule, Kita und Jugendamt, weitere Akteure wie Frühe Hilfen, Jugendarbeit, Kinder- und Jugendmedizin, Beratungsstellen und Vereine, Kirchengemeinden, aber auch Sozialamt und Jobcenter, um nur einige zu nennen.

Was muss anders werden?

Klaus Friedrich: Wir müssen die Hilfs- und Beratungsangebote stärker bündeln und uns die Kinder zu einem deutlich früheren Zeitpunkt in den Familien anschauen, denn dann wird die Beratung dort in der Regel noch besser angenommen. Beratungszentren und einfache Hilfen können Ansätze sein, um dem Kind, dem Jugendlichen und ihren Familien frühzeitig wirksam zu helfen.

Wie können die Kinder erreicht werden?

Olav Muhl: Die KJH muss in die Lebenswelt der Kinder rein, am sinnvollsten über die Kita und die Grundschule. Die „Pflichtgemeinschaft Schule“ gilt es zu nutzen zum Beispiel über die Schuleingangsuntersuchung. Auf dieser Grundlage können frühzeitig wirksame Angebote gemacht werden.

Mit welchem Ziel?

Olav Muhl: Klaus Friedrich hat es schon benannt: mit der Stärkung des „Normalsystems“ Familie. Der beste Platz für das Kind ist nun einmal in der eigenen Familie. Familien müssen frühzeitig unterstützt werden, alle Akteure müssen dabei rechtzeitig mit ins Boot.

Wie kann das funktionieren?

Klaus Friedrich: Wir in der EVIM Jugendhilfe wollen zusammen mit einem geeigneten Jugendamt in einer überschaubaren Region ein Modellprojekt installieren, um den präventiven und sozialraumorientierten Ansatz konsequent umzusetzen. Es soll wissenschaftlich begleitet werden mit dem Ziel, nach fünf Jahren Laufzeit ein effizientes Regelangebot zu entwickeln.

Sie beide kennen durch Ihre langjährige berufliche Expertise sowohl die Sicht der Jugendämter als auch der Jugendhilfeträger. Was ist Ihre Erfahrung?

Olav Muhl: Der Überlastung des Allgemeinen Sozialen Dienstes haben wir schon thematisiert, immer weniger Mitarbeitende sind für immer mehr Fälle zuständig.  Die föderale Struktur ist eine weitere Herausforderung: Gesetze werden vom Bund gemacht, für deren Umsetzung die Kommunen und Gemeinden zuständig sind. Und, last but not least, jedes Jugendamt vor Ort „tickt“ anders.

Wie dick ist das Brett, damit es perspektivisch - wie vom Gesetzgeber vorgesehen - eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe geben soll?

Klaus Friedrich: Seit vier Jahren reden wir darüber, aber bewegt hat sich leider zu wenig. Es bedarf neuer Werkzeuge, damit Inklusion in der KJH bis 2028 umgesetzt werden kann. Und beim derzeitigen Zustand der Ampelkoalition erscheint mir eine Einigung in der Frage der Finanzierung fraglicher denn je!

Ihr Fazit zu den Politikgesprächen?

Beide: Wir haben das Gespräch gesucht, weil wir ein Problem sehen, wenn sich in der Kinder- und Jugendhilfe nichts ändert. Der Austausch darüber war mit allen interessant und soll fortgesetzt werden. Ein konkreter Erfolg war, dass uns Frau Landtagspräsidentin Astrid Wallmann versichert hat, beim Landesprojekt zur Förderung der Erzieherausbildung nicht nur die Kitas sondern auch die klassische Jugendhilfe mit zu denken. Außerdem haben wir uns sehr über die entstandene Vernetzung gefreut und werden an diesem Punkt sicherlich dranbleiben!

Vielen Dank für das Gespräch!

(1) Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) ist ein Fachdienst des Sozial- und Jugendamtes in jeder Kommune, der Einzelpersonen und Familien in persönlichen, familiären oder wirtschaftlichen Notlagen unterstützt.

Und das sagte Michael Simon, MdL, Bürger- und Wahlkreisbüro Bad Kreuznach, über das Politikgespräch: Ein umfassender und hochinteressanter fachlicher Austausch zu Fragen der Jugendhilfe. Dazu habe ich mich heute mit der Leitungsebene des in Hessen und Rheinland-Pfalz aktiven Jugendhilfeträgers EVIM getroffen. Neben den Themen Fachkräftemangel, dem Zusammenwirken der öffentlichen und freien Jugendhilfeträger, haben wir intensiv über die neuen Herausforderungen in der Jugendhilfe und notwendige strukturelle Veränderungen gesprochen. Wir waren uns einig: Das Säulendenken muss überwunden werden – Jugendhilfe ist umfassend zu verstehen.“ (2.10.2023)