Mit Gert auf der Suche nach dem Wir - Gefühl

Auf der Suche nach einer kollektiven Identität entstand ’Gert’, ein komisches Wesen, das von nun an das Maskottchen der Tagesgruppe Plus in Wehrheim ist. Es fungiert als Botschafter für einen positiven Umgang miteinander. Ein Bericht von Isabelle Sachs, Mitarbeiterin der EVIM Jugendhilfe

Seit Eröffnung der Tagesgruppe Plus in Wehrheim vor zwei Jahren unterstützen wir im Rahmen unseres Auftrags zur Erziehung, Bildung und Betreuung jedes Kind darin, sich zu einer autonomen, verantwortungsbewussten, gemeinschafts-, handlungs- und entscheidungsfähigen Persönlichkeit zu entwickeln. Viele Bestandteile unseres Gruppenalltag, wie gemeinsame Freizeitangebote, Pädagogische Projekte und Aufgaben für die Gemeinschaft, trugen bereits zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls bei. Dennoch spiegelten alltägliche Auseinandersetzungen der Kinder und sich regelmäßig entwickelnde Konflikte wider, dass eine verbindliche Verständigung und Einigkeit über einen angemessenen Umgang miteinander fehlten. Für eine positive Entwicklung des Einzelnen müsse das Wir – Gefühl der Gruppe gestärkt werden.

Kinderkonferenz als bewährtes Instrument

Im Laufe unserer Teamsupervision entwickelten wir die Haltung, dass einem Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit sowie der Verabredung von Regeln des gemeinsamen Umgangs, als wichtigste Grundlage vorausgehen müsse, sich selbst zu kennen, seine eigenen Gefühle wahrzunehmen, diese äußern und damit umgehen zu können. Erst wer sich der eigenen Grenzen bewusst ist, wird die Grenzen anderer einhalten können. Neben einer Auseinandersetzung mit sich selbst, erfordert der Aufbau eines Wir-Gefühls im Weiteren selbstverständlich auch einen Austausch der Kinder untereinander. Uns war wichtig, dass die Kinder innerhalb eines begleiteten Rahmens die Möglichkeit geboten bekommen in einen Austausch miteinander zu treten, die Gefühle und Gedanken des anderen wahrzunehmen und respektieren zu lernen, mit anderen zu kooperieren, Kompromisse zu finden, andere Meinungen anzuerkennen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die Kinderkonferenz, die einen festen Bestandteil der wöchentlichen Struktur der Tagesgruppe bildet, bot hierfür den passenden Rahmen. Hier bekommen die Kinder das Wort. Es wird gemeinsam geplant, Erlebtes erzählt, gute und schlechte Gefühle ausgedrückt, konkrete Situationen besprochen und Ideen vorgestellt. Die Kinder können sich hier engagieren, eigene Ideen miteinbringen und am Entwicklungsprozess der Tagesgruppe mitwirken.

Kinder erarbeiten Standards

Wir eröffneten die Kinderkonferenz mit der Erklärung unseres Vorhabens. Die Kinder sollten die Notwendigkeit des gemeinsamen Aushandelns von Werten und Verhaltensregeln im Umgang miteinander, zugunsten der Schaffung eines Ortes des Vertrauens, der Sicherheit und Verlässlichkeit für jedes Kind, nachvollziehen können. Wir regten einen Austausch darüber an, was wir brauchen, um sich in der Tagesgruppe wohlzufühlen, wo die Grenzen des Einzelnen liegen und wie man behandelt werden möchte. Die Gedanken der Kinder wurden auf einer Flipchart festgehalten, womit im Laufe der Konferenz vier Standards bzw. Grundhaltungen des sozialen Miteinanders in der Gruppe herausgearbeitet werden konnten: gewaltfrei, einzigartig, rücksichtsvoll und tolerant. In den darauffolgenden Sitzungen setzten sich die Kinder näher mit den vier Wörtern und ihrer Bedeutung auseinander. Kurze Animationsfilme von Knietzsche – dem kleinsten Philosophen der Welt – zu komplexen Themen wie Gerechtigkeit, Toleranz, Freiheit und Mobbing, regten die Kinder zum Nachdenken und Diskutieren an. Die Kinder philosophierten gemeinsam über die Frage, was es für sie persönlich bedeutet, gewaltfrei, rücksichtsvoll und tolerant miteinander umzugehen sowie für sich selbst einzigartig zu sein.  Die Ergebnisse wurden kindgemäß dokumentiert: Beispielsweise heißt, gewaltfrei miteinander umzugehen, dass kein Mensch mit Worten verletzt werden darf und man niemanden gegen seinen Willen berührt. Unter Einzigartigkeit verstehen die Kinder, dass jeder so gut ist, wie er ist und jeder andere Dinge mögen darf. Jedes Kind hat individuelle Stärken und Schwächen, die es besonders machen. Rücksichtsvoll sind wir miteinander, wenn man auch mal auf etwas verzichten kann und anderen hilft. Tolerant begegnen wir einander, wenn wir die Meinung des anderen und seine Verhaltensweisen annehmen, auch wenn sie nicht den unseren entsprechen.

Geburtsstunde für das Maskottchen

Ein Zufall war es schließlich, dass die Anfangsbuchstaben dieser Wörter einen Namen, nämlich Gert, ergeben. Der Impuls der Kinder, unsere erarbeiteten Verhaltensregeln quasi lebendig werden zu lassen und ein Wesen zu erschaffen, was so ist, wie wir sein wollen, wurde in die Tat umgesetzt. Die Kinder phantasierten, auf welche Weise Gert zum Leben erweckt werden kann. Die Idee, Gert als Kuscheltier nähen zu lassen, erschien allen geeignet. Aber wie sollte Gert aussehen? So einzigartig, wie wir sind, sollte schließlich auch Gert sein. Außerdem sollte zum Zweck der bestmöglichen Identifizierung mit Gert, jedes Kind gleichermaßen an seiner Entwicklung beteiligt sein. Die Möglichkeit, eine gemeinschaftliche Zeichnung der Kinder als Vorlage zu nehmen, überzeugte uns. Jedes Kind malte auf ein zuvor in vier Abschnitte unterteiltes Blattpapier einen Kopf, einen Oberkörper, Beine und Füße. Der Fantasie der Kinder waren keine Grenzen gesetzt. Die einzelnen Segmente wurden nun ausgeschnitten und sortiert.  Wir zogen jeweils eine Version jedes Körperteils, sodass sich zusammengefügt ein Wesen mit rundem Eierkopf, einem länglichen Körper mit tentakelartigen Armen, schlaksigen Beinen und Kasperfüßen – Gert – ergab.

Ab jetzt mit Gert

Gert ist seither Teil unseres Alltags. Unter dem Motto „Sei wie Gert“ begegnet er den Kindern als Maskottchen, wenn er bei Kinderkonferenzen als stiller Teilnehmer anwesend ist oder auch bei Konflikten der Kinder als Sinnbild eines beispielhaften Umgangs miteinander hinzugezogen wird. Ein großes Holzschild, welches im Flur der Tagesgruppe angebracht wurde, soll die Kinder täglich an das erinnern, was Gert und uns wichtig ist. In aktueller Umsetzung sind T-Shirts mit Gert als Motiv und für die Zukunft ist geplant, dass Gert immer präsenter in der Tagesgruppe wird, sodass sich auch Kinder, welche bei seiner Entwicklung nicht mitgewirkt haben, mit Gerts Werten identifizieren können. Rückblickend hat der Prozess der Entwicklung und Etablierung eines Maskottchens in der Tagesgruppe das Wir-Gefühl der Gruppe gestärkt und durch seine Präsenz im Alltag der Gruppe, einen guten Umgang miteinander üb- und erlebbar werden lassen.

Summary: Ein Wir-Gefühl schaffen – dieses Ziel stand nach einem turbulenten und aufregenden ersten Jahr in der Tagesgruppe Plus, das von Höhen und Tiefen geprägt war, im Fokus unserer pädagogischen Arbeit. Auf der Suche nach einer kollektiven Identität entstand ’Gert’, ein komisches Wesen, was heute das Maskottchen der Tagesgruppe ist. Gert ist heute unser Botschafter für einen positiven Umgang miteinander. Mit seiner Hilfe lernen die Kinder soziale Situationen im Gruppenalltag kompetent zu bewältigen. Spielerisch vermittelt Gert den Kindern, was für Rechte sie haben und wie man sich für sich selbst sowie füreinander stark macht. Denn das Einstehen für die eigenen Rechte und die Achtung der Rechte anderer sind keine Selbstläufer, sie müssen von den Kindern stetig geübt und erfahren werden.