Nähe finden in Zeiten von Distanz? Die "Schatzkiste" unter Corona-Bedingungen

Für Menschen mit Beeinträchtigung ist die Partnersuche derzeit besonders schwer

(evim) „Viele Menschen, die regelmäßig zu unseren Angeboten gekommen sind, sind traurig und vermissen das Miteinander“, weiß Jacqueline Andrée, Leiterin der Schatzkiste Wiesbaden zu berichten. Die Schatzkiste ist eine Partnerschaftsvermittlung für Menschen mit Beeinträchtigung. Darüber hinaus bietet sie ihnen, ihren Angehörigen und Institutionen Beratung in allen Fragen zu Freundschaft, Liebe und Sexualität an.

Die ausgebildete Sozial- und Sexualpädagogin, die seit über zehn Jahren in dem Angebot der EVIM Gemeinnützige Behindertenhilfe GmbH arbeitet, berichtet von zahlreichen Anrufen und E-Mails der Klienten, die wissen wollten, wann es wieder losginge. Es – das sind zum Beispiel die Kennenlernangebote wie Filmabende, Kochkurse, Tanzen-Lernen-Kurse und besonders die legendären Schatzkistenpartys im Kulturzentrum Schlachthof in Wiesbaden. „Die oft erlebte Einsamkeit sei für alle pandemiebedingt noch schwieriger zu bewältigen und die Hürden, dem zu entkommen, noch höher“, beobachtet sie. Seit März konnte sie vier Paaren einen Erstkontakt vermitteln und den Suchenden zumindest ein Kennenlernen und Spazierengehen ermöglichen. Beziehungen seien allerdings daraus nicht entstanden, fügt sie hinzu. „Viele haben Angst, sich mit dem Virus anzustecken." Im Sommer gelang es der Schatzkiste, ein Picknick für 14 Leute zu organisieren. Mit sieben Kontaktsuchenden aus der Gruppe habe man vorher dafür gekocht, dann ging es mit Decken und Körben zum Warmen Damm. „Das kam supergut an“, freut sie sich. In der aktuellen pandemischen Lage sind gemeinsame Aktivitäten natürlich nicht möglich. In den vergangenen Monaten konnten jedoch längere Telefonate und Online-Beratung mit dazu beitragen, Stimmungen wenigstens zeitweise wieder aufzuhellen. Oft war es ein „mit jemandem sprechen wollen“, um der Einsamkeit zu entkommen.

Dabei sehen die Sexualpädagogin und ihr Kollege Felix Vogel viel Beratungsbedarf. Sie berichtet über den Fall einer jungen beeinträchtigten Frau, die zu ihrem Freund ziehen will, der bereits in einer besonderen Wohnform lebt. Aus rechtlichen Gründen erfordere das eine vorherige Beratung und Aufklärung des Betreuerteams und der Klient*innen. Das ist unter Beachtung der gebotenen Schutzmaßnahmen nicht ganz einfach, wie Felix Vogel beschreibt: „Verhütungsmittel auszuprobieren, zum Beispiel ein Kondom über einen Holzpenis zu ziehen, funktioniert nicht aus der Entfernung.“ So habe er sich - mit Zeichenblock und Stift  - mit dem jungen Mann im Kurpark getroffen und ihn beraten. Seine Kollegin und er vereinbarten ein Treffen mit der jungen Frau in der Einrichtung, die für die fachliche Unterstützung in dieser Sache sehr dankbar war. In weiteren drei Fällen konnten die Fachexperten digitale Beratung leisten. Im November fand zudem mit FSJ-lern, die in sozialen Einrichtungen tätig sind, das erste Online-Seminar zum Thema Sexualität statt.

„Die digitale Kommunikation bereitet Menschen mit Lernbehinderungen zusätzlich große Schwierigkeiten“, beobachtet Andrée. Viele Kontaktsuchende hätten zudem kein WLAN und verfügten, wenn überhaupt, nur über ein geringes Datenvolumen. „Der Kontakt zu uns läuft über Telefon, E-Mail und seit dem Lockdown im Frühjahr auch über Messengerdienste“, sagt Jacqueline Andrée. Hinzu käme, dass die meisten Kontaktsuchenden kaum oder nur mit großen Schwierigkeiten schreiben können. So berichtet sie, dass kürzlich ein Klient einen Briefkontakt mit einer Auserwählten starten wollte. Er habe den Schatzkistenmitarbeitern eine Sprachnachricht für seine neue Bekanntschaft geschickt. Diese wurde daraufhin von ihnen schriftlich übertragen und an die Dame verschickt. „So geht hier Liebe in Zeiten von Corona“, bemerkt Andrée. Aus ihrer Sicht werden die Schwierigkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion nicht ausreichend berücksichtigt. „Einsamkeit macht krank“, ist sie überzeugt. (hk)

Hintergrund
Schatzkiste

Menschen mit Beeinträchtigungen finden im Alltag oft nur wenig Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen oder Partner kennenzulernen. Um sie darin zu unterstützen, richtete die EVIM Gemeinnützige Behindertenhilfe GmbH im April 2006 eine „Schatzkiste“ nach dem Modell des Bundesverbandes Schatzkiste e.V. ein. Als Kontaktbörse und Partnervermittlung ist sie auch Beratungsstelle bei allen Fragen zu Partnerschaft und Sexualität für Menschen mit Beeinträchtigungen, deren Angehörige oder Institutionen. Aktuell gibt es 50 weibliche Kontaktsuchende und 180 männliche Kontaktsuchende (Interessenten insgesamt weiblich: 89 und männlich: 211) in der Kartei der Schatzkiste Wiesbaden. Die „Schatzkiste“ gibt es mittlerweile über 40 mal in Deutschland, 5 mal in der Schweiz und einmal in Österreich.

Mehr Infos: https://www.evim.de/beeintraechtigte-menschen/schatzkiste-wiesbaden.html

Kontakt und weitere Infos: Jacqueline Andrée, T: 0611 53241898 und  Mobil: 0172 3471147

(Archiv-Foto EVIM)