"Wir haben das Gefühl, dass man uns nicht sieht“

Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, stattete am 11. Mai dem Seniorenzentrum der EVIM Altenhilfe in Kostheim einen besonderen Besuch ab. Dort absolvierte er zum Auftakt der Woche für die Pflege ein Pflegepraktikum. Schon nach wenigen Minuten war er mittendrin in dem, was Pflegende Tag für Tag zu stemmen haben.

Er begleitete Wohnbereichsleiterin Nicole Ruthof und assistierte bei der pflegerischen Versorgung in einem Wohnbereich für Menschen mit Demenz. Hautnah erlebte er an diesem Vormittag, dass zwei Nachtdienste absagten und kurzfristig Ersatz organisiert werden musste. Die tägliche Dokumentation am PC erfordert etwa drei Stunden Zeit. Zeit, die fehlt, um bei den Bewohnern zu sein und auch um Auszubildende adäquat anzuleiten und zu betreuen. „Immer weniger Fachkräfte, immer weniger Personal stehen für die Pflege und den wachsenden Dokumentationsaufwand zur Verfügung“, so Lilie beim anschließenden Pressegespräch. Die Arbeitsverdichtung sei das größte Problem. „Eine Überlastung der Pflegenden lässt sich da nicht ausschließen“, konstatierte auch Pflegedienstleiterin Angela Alt. Zudem wies der Diakonie Präsident auf den ganz erheblichen Gehaltsunterschied hin: „Pflegefachkräfte in Senioreneinrichtungen verdienen im Schnitt 600 Euro weniger als ihre Kollegen im Krankenhaus. Wir müssen einheitlich bezahlen“, forderte der Diakonie Präsident und plädierte mit Nachdruck für die generalistische Pflegeausbildung. Gut ausgebildete Fachkräfte zu finden, ist schwieriger denn je. Auszubildende brauchen nach den Worten von Angela Alt zudem immer mehr Betreuung, um die Anforderungen im Beruf zu bewältigen. „Der Pflegeprozess ist heute hochkomplex. Pflegen kann nicht jeder“, sagte die Pflegedienstleiterin.

Geschäftsführer Frank Kadereit machte in seinem leidenschaftlichen Vortrag auf die unhaltbare Situation aufmerksam, die durch die aktuellen Rahmenbedingungen gegeben ist. „Es ist praktisch zehn nach Zwölf.“ Er berechnete am konkreten Beispiel in Kostheim, dass für 24 pflegebedürftige Bewohner je Schicht zwei Pflegemitarbeiter anwesend sind, was real bedeutet, dass 35 Minuten netto je Bewohner und Schicht für alle Aufgaben zur Verfügung stehen: Angefangen von Grund- und Behandlungspflege, über Telefonate mit Arzt und Apotheke, die Begleitung sämtlicher Prüfungen durch Gesundheitsamt, Betreuungs- und Pflegeaufsicht, Angehörigengespräche bis zur Notfallversorgung, Palliativversorgung und Begleitung Sterbender. Wenn durch Personalausfall noch mehr Arbeit geleistet werden muss, sei das kaum zu schaffen. „Altenpflege gehört zu den Berufen mit dem höchsten Krankenstand“, so Kadereit.

Auf diesem Hintergrund spricht er „von der kompletten Entkopplung von Anforderungen und Ressourcen insbesondere durch den beabsichtigten Rahmenvertrag Hessen 2018“ und fügte hinzu: „Nicht der Stellenschlüssel sondern die Eingruppierung der Bewohner ist entscheidend.“ Die durchschnittliche Eingruppierung bei den Pflegegraden in Hessen ist kontinuierlich gesunken. Das bedeutet weniger Geld für Angehörige und auch weniger Geld für Personal in den Pflegeinrichtungen. Gleichzeitig hat sich der Pflegebedarf der Bewohner deutlich erhöht. „In den vergangenen 20 Jahren haben wir deshalb über 10 Prozent der Personalstellen verloren“, konstatiert Kadereit. „Für 32 Bewohner wären zukünftig in der Pflege nur noch zweieinhalb Stellen in einer Schicht zuständig. Davon wäre nur noch eine Mitarbeiterin eine examinierte Kraft. Wie sollen unter diesen Bedingungen, so Kadereit weiter, Altenpflegeschülerinnen und Altenpflegeschüler noch ordentlich für die Zukunft ausgebildet werden können? Wenn die Politik 8.000 Stellen in der Pflege mehr schaffen will, bedeutet das konkret für eine Einrichtung wie in Kostheim ein Plus von 0,6 Stellen und 1,2 Minuten mehr pro Bewohner und Tag.“ Der Geschäftsführer der EVIM Altenhilfe appellierte daher nachdrücklich, dass die Rahmenbedingungen nachhaltig verbessert werden müssen. Das sieht auch der Diakonie Präsident so. Die Pflegeversicherung als Finanzierungsgrundlage reiche nicht aus. Fast 1.800 Euro müssen Angehörige und Pflegebedürftige pro Monat für Pflege aufbringen. „Pflege ist ein Armutsrisiko“, so Lilie.

Was ist angesichts dieser dramatischen Situation aus Sicht der Pflegekräfte zu tun? Für Nicole Ruthof sind es mehr Personal, Arbeitszeiten, „bei denen wir alle 14 Tage ein freies Wochenende haben“ und eine bessere Bezahlung. Als verletzend erlebe sie vor allem die gesellschaftliche Abwertung gegenüber ihrem Beruf. Gefragt bei dem anschließenden Pressegespräch, ob sie sich von ihrem Gehalt einen Pflegeplatz in einem Heim leisten kann, sagte sie: Nein. Ihre Pflegedienstleiterin forderte nachdrücklich mehr Anerkennung für den Beruf. „Wir haben das Gefühl, dass man uns nicht sieht.“ Ulrike Döring vom DEVAP nahm den Tag der Pflege am 12. Mai zum Anlass, zum gemeinsamen Handeln aufzurufen. Der Tag wird traditionell am Geburtstag von Florence Nightingale begangen, einer Vorkämpferin für gut ausgebildete Pflegekräfte. „Wir leben in einem Land, in dem Geld da ist, lasst uns gemeinsam etwas tun!“

Foto (EVIM):Diakonie Präsident Ulrich Lilie an der Seite von Nicole Ruthof, Wohnbereichsleiterin im Seniorenzentrum Kosteim.