„Die Zeder schweigt nicht“ – EVIM eröffnet Denkort zur NS-Zeitgeschichte auf dem Geisberg
(evim) Mit einer eindrucksvollen Feierstunde hat der Evangelische Verein für Innere Mission in Nassau (EVIM) heute auf dem Geisberg in Wiesbaden einen Denkort zur NS-Zeitgeschichte eröffnet. Das von dem Wiesbadener Künstler Nabo Gaß gestaltete Mahnmal erinnert an Kinder und Jugendliche, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus den damaligen Evangelischen Erziehungsheimen auf dem Geisberg herausgenommen worden sind, um sie in staatliche Heime unterzubringen. Mindestens vier von ihnen wurden Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen.
Unter der mächtigen, rund 180 Jahre alten Zeder entstand ein Ort der Erinnerung, der Mahnung und der Verantwortung. Stelen, die wie tragende Äste unter dem Baum angeordnet sind, tragen die Namen von ermordeten Kindern sowie Zitate, die zum Nachdenken anregen. „Die Zeder schweigt nicht. Dieser Ort steht für die Erinnerung an die Opfer – und für unser Versprechen, aus der Geschichte zu lernen“, sagte Matthias Loyal, EVIM Vorstandsvorsitzender, bei der Einweihung.
Aufarbeitung der eigenen Geschichte
Im Rahmen seines 175-jährigen Jubiläums hat EVIM die eigene Geschichte während der NS-Zeit wissenschaftlich neu untersuchen lassen. Die Historikerinnen und Historiker der Agentur Guttmann Grau und Partner erforschten die Vorgänge in den damaligen Erziehungsheimen auf dem Geisberg. Bisherige Berichte haben sich im Zuge der Forschungen als zum Teil beschönigend erwiesen.
Zentral war die Frage, was mit den Kindern geschah, die 1937 auf Anordnung der NS-Behörden aus den Heimen in staatliche Einrichtungen verlegt wurden. Vier Biografien konnten eindeutig rekonstruiert werden:
- Hans P., geb. 1924, getötet 1944 im Kalmenhof,
- Erhard R., geb. 1928, getötet 1941 im Kalmenhof,
- Ferdinand M., geb. 1922, getötet 1944 im Kalmenhof,
- Else M., geb. 1922, ermordet 1941 in Hadamar.
Für viele weitere Kinder bleiben die Lebenswege im Dunkeln.
„Natürlich haben wir geahnt, dass es schwierige Ergebnisse sein würden,“ sagte Loyal. „Aber dem wollten wir uns stellen.“ Die Forschungen zeigen, dass EVIM in der NS-Zeit nicht nur Opfer von Repression war, sondern auch selbst Teil der Strukturen und Denkweisen jener Zeit. So wurden nachweislich mindestens 15 Kinder und Jugendliche zwangssterilisiert, teils aus vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.
„EVIM wurde lange als Opfer dargestellt – das ist nur die halbe Wahrheit,“ so Loyal. „Wir müssen bekennen, dass auch hier im Geist des Nationalsozialismus erzogen wurde. EVIM habe augenscheinlich versucht, seine eigene Organisation zu schützen und diesem Bestreben den Schutz der Kinder geopfert.“
Erinnerung als Auftrag
Während der Feierstunde wurden Kerzen für die namentlich bekannten Opfer und für alle weiteren unbekannten Kinder entzündet und Rosen niedergelegt. In einer Rezitation erklang der Gedichttitel als Leitmotiv zum Denkort:
„Die Zeder schweigt nicht.
Unter ihrer Krone, einst schützend –
geschah das Unnennbare.
Heute tragen ihre Äste die Stimmen derer,
die man zum Schweigen gebracht hat.“
Symbol unter der Zeder
Der Standort des Denkortes wurde bewusst gewählt: Die Zeder auf dem Geisberg wurde um 1840 gepflanzt – sie ist damit nur wenige Jahre älter als der Verein selbst. Das Gelände beherbergte über Generationen hinweg Bildungs- und Betreuungseinrichtungen und ist heute Sitz verschiedener Bereiche der EVIM Bildung, Jugendhilfe, Teilhabe und Verwaltung. „Diese Zeder, die über Generationen Geborgenheit schenkte, braucht heute selbst unsere Unterstützung. Sie erzählt von den Gräueln der Geschichte und mahnt uns, füreinander einzustehen“, erklärte der Künstler Nabo Gaß die Symbolik seines Werkes. Zum Abschluss erinnerte Matthias Loyal an die bleibende Aktualität des Gedenkens: „Die Frage, wie wir uns in autoritären Systemen verhalten, ist weltweit sehr aktuell,“ sagte Loyal eindringlich. „Dieser Ort erinnert uns daran, dass Menschlichkeit, Verantwortung und Mut zum Widerspruch nie selbstverständlich sind.“ (hk)
Über EVIM
Der Evangelische Verein für Innere Mission in Nassau (EVIM) wurde 1850 gegründet und feiert 2025 sein 175-jähriges Bestehen. Heute engagiert sich der Verein mit über 3.400 Mitarbeitenden in den Bereichen Jugendhilfe, Bildung, Teilhabe und Altenhilfe. Mit dem Denkort auf dem Geisberg bekennt sich EVIM zu einer offenen und selbstkritischen Erinnerungskultur – als Teil seiner diakonischen Verantwortung in Kirche und Gesellschaft.