Prof. Dr. Davina Höblich stellt den 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung vor (Foto: HRM)

Stellung beziehen – Fachtag der Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule RheinMain

Neutral war gestern. So lautet der Titel eines Fachtags, den die EVIM-Jugendhilfe gemeinsam mit dem Verein Spiegelbild und der Hochschule RheinMain auf deren Campus ausrichtet. In Workshops und Podien tauschen sich dabei rund 60 Teilnehmende dazu aus, wie politisch die Kinder- und Jugendhilfe sein darf.

Gleich bei den Begrüßungen der durch EVIM initiierten Fachtagung wird deutlich, dass zu der übergeordneten Fragestellung große Einigkeit besteht. „Ein Neutralitätsgebot hält weder einer fachlichen noch einer juristischen Perspektive stand“, erläutert Thure Alting, Bildungsreferent bei Spiegelbild. Dass man sich auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe parteipolitisch neutral zu verhalten habe, bedeute keineswegs, dass man nicht Positionen beziehen und eine kritische Haltung einnehmen könne. Noch einen Schritt weiter geht die Dekanin des Fachbereichs Sozialwesen der Hochschule RheinMain. „Neutralität ist ein Verstoß gegen das, was soziale Arbeit ausmacht. Das politische Mandat ist Kern unserer Profession“, betont Professorin Kathrin Witek. Dieses Mandat umfasse etwa die Umsetzung von Menschenrechten oder den Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Allerdings erfordere dies professionelle Balance.

Herausforderungen in krisengeprägter Zeit

„Politische Bildung ist wichtiger denn je“, verdeutlicht Wiesbadens Sozialdezernentin Patricia Becher (SPD). In der Landeshauptstadt gebe es hierzu ein breites Angebotsspektrum vom Jugendparlament über den Stadtschülerrat bis zur Jugendkonferenz. Im kommenden Jahr werde zudem ein Kinderparlament in Mainz-Kastel eingerichtet. Rund 5.400 junge Menschen sind auch eingebunden gewesen, in die Erstellung des 17. bundesweiten Kinder- und Jugendberichts. Einige Ergebnisse in Hinsicht auf die Kinder- und Jugendhilfe stellt Professorin Davina Höblich als Mitglied der Sachverständigenkonferenz in ihrem Eröffnungsvortrag vor. Im Jahr 2022 seien in Deutschland lediglich rund ein Prozent aller Kinder im Alter bis elf Jahre in Einrichtungen der Jugendhilfe oder bei Pflegeeltern untergebracht gewesen. Bei den zwölf- bis 17jährigen seien es 2,2 Prozent gewesen. Unter den Familien gebe es allerdings große sozioökonomische Ungleichheiten. Zu den Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe gehöre nicht zuletzt die Unterstützung beim Umgang mit Ängsten in einer von Krisen geprägten Zeit. Außerdem die Versorgung und Unterbringung junger Geflüchteter. Nicht umsonst habe sich die Zahl der Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe zwischen 2006/2007 und 2020/2021 auf rund 1,2 Millionen verdoppelt. Dennoch herrsche in den entsprechenden Berufen eine besonders große Fachkräfte-Lücke. Für die EVIM-Jugendhilfe mit ihren rund 70 Einrichtungen in Hessen und Rheinland-Pfalz seien daher die Absolventen der Hochschule RheinMain als Arbeitskräfte elementar, erläutert Klaus Friedrich, der Geschäftsführer des Geschäftsbereichs.

Großes Interesse an der EVIM-Connect App

In der Workshop-Phase werden unter anderem die Rolle der Sozialen Arbeit als politische Bildung oder die Möglichkeiten für Fachkräfte erörtert, auf Veränderungen hinzuwirken. In dem von EVIM angebotenen Workshop wiederum beschäftigen sich die elf Teilnehmenden mit der politischen Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe. Dazu stellen Klaus Friedrich und sein Stellvertreter Olav Muhl zunächst einmal den Ansatz der EVIM Jugendhilfe vor sowie ein paar Werkzeuge, die hier bereits angewendet werden. „Politische Bildung ist eine Grundvoraussetzung für Teilhabe, kein Zusatzangebot“, betont Klaus Friedrich. Um das zu erreichen habe man unter anderem bereits drei Beschäftigte ausgebildet, um eine Lotsenfunktion in Sachen Demokratie zu übernehmen. Ziel sei es nicht zuletzt, politische Bildung stärker in den Einrichtungen zu verankern. Es gebe zudem ein klassisches Vorschlagswesen, weil die Chance steige, dass die Kinder sich wohlfühlten, wenn die knapp 580 Mitarbeitenden zufrieden seien. Zusammen mit dem Verein Spiegelbild richte man alle zwei Jahre ein Partizipationswochenende aus, bei dem die Jugendlichen Selbstwirksamkeit erleben können. Besonders großes Interesse ruft die EVIM Connect-App hervor, in deren internen Bereich es unter anderem eine Chat-Funktion gebe. Der allgemein zugängliche Bereich, ermögliche es aber auch, anonyme Meldungen abzugeben. „Das nutzt nicht jeder, aber wir bekommen schon regelmäßig auch Beschwerden“, berichtet Klaus Friedrich. In gut zwei Drittel aller Fälle gehe es um die Verfügbarkeit des lokalen Funknetzwerks WLAN, aber es könne durchaus auch mal um Mobbing gehen oder die Frage gestellt werden, warum es so häufige Personalwechsel gebe. Aus der Gruppe der Teilnehmenden gibt es zahlreiche Fragen zur genauen Anwendung, den Kosten und den Optionen, ein solches Werkzeug mit mehreren kleinen Trägern gemeinsam zu nutzen. „Wir müssen lernen, viel mehr zusammen zu arbeiten, um als politische Stimme gehört zu werden“, betont Olav Muhl.

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit konsequent entgegentreten

In Kleingruppen tauschen sich die Teilnehmenden zudem über eigene Erfahrungen aus. André Kohl vom Verein zur Förderung mobiler Jugendarbeit (moja) berichtet von der aktiven Beteiligung Jugendlicher als Wahlhelfer bei inoffiziellen Urnengängen, die für Altersgruppen unter 16 sowie unter 18 Jahren ausgerichtet werden. Michaela Iske von der evangelischen Familienbildung schildert ihre Irritation über die Verwendung des Begriffs „Kopftuchmädchen“ durch eine Jugendliche, die selbst nicht in Wiesbaden geboren sei. Solche Vorfälle machten den Bedarf an Haltung sowohl einer Einrichtung als auch eine Einzelperson deutlich. „Als Dienstgeber muss man so was schon vorgeben, aber auch ins Gespräch kommen. Das erfordert Geld und Zeit“, findet Mariano Lopez, Einrichtungsleiter der Kinder- und Jugendhilfe Sankt Hildegard in Bingen. In der Schlussrunde herrscht dann wieder große Einigkeit. Ein Mitarbeiter eines Frankfurter Kinderhauses findet es erstaunlich, wenn davon ausgegangen werde, dass soziale Arbeit unpolitisch sei. „Es geht nicht um Parteipolitik, sondern darum Rassismus und Xenophobie entgegen zu treten“, verdeutlicht Olav Muhl. Mittlerweile werde Menschlichkeit jedoch bereits als Zugehörigkeit zum linken politischen Spektrum begriffen, bedauert Michaela Iske. „Es ist spannend, wie schwierig es mittlerweile geworden ist, sich politisch zu äußern“, stellt auch Klaus Friedrich fest. Es könnte also nicht der letzte Fachtag zu diesem spannenden Thema gewesen sein. (hej)